Unsere Kolumnistin Ulli Bauer erzählt aus dem ganz alltäglichen Wahnsinn einer Garnelenverrückten, die sich im Online-Universum bewegt.
Wenn Algen keine Algen sein dürfen
Die Gruppenexperten gehen steil: Da hat sich doch tatsächlich ein Zoofachhandel erfrecht, Rennschnecken als ALGENschnecken anzupreisen. Das zugegebenermaßen reichlich dünne Tierchen auf dem Foto in der Facebook-Gruppe wirkt ein wenig mitgenommen und hat das Umsetzen vom Händlerbecken ins Aquarium nicht ganz so gut vertragen. Es ist ob der rasanten Umstellung der Wasserwerte ein wenig beleidigt und liegt mit leicht geöffnetem Deckel herum, kriecht aber ab und an schon ein bisschen durch die Gegend. An hineingeworfenes Futter geht das Tier allerdings erstmal nicht.
Die Gruppenexperten sind sich einig. Das arme Ding ist VERHUNGERT, weil es als ALGENschnecke verkauft wurde und aber doch ü-ber-haupt gar keine Algen frisst! Rennschnecken sind nämlich Aufwuchsfresser, das! weiß! man! doch! Und schon kommt der Tipp, mal an dem Tier zu schnuppern – wenn es stinkt, ist es tot. Verhungert, wie schon gesagt. Weil als ALGENschnecke verkauft … Gut, dass die Schnecke mittlerweile wieder im Aquarium umherkriecht, wird dabei erstmal großzügig übergangen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, geht man weiterhin vom Tod des armen Tieres aus.
(Foto: Oliver Mengedoht)
Aber nein, liebe Gruppenexperten: Derjenige, der euch erfolgreich erzählt hat, dass Rennschnecken keine Algen fressen, hat vergessen zu präzisieren. Natürlich stimmt es, dass Neritiden nicht an höhere Algen wie Fadenalgen oder Pelzalgen, Fusselalgen, Bart- und Pinselalgen gehen – ihre Raspelzunge ist nicht nur für gesundes Pflanzengewebe nicht hart genug, sondern packt auch keine härteren Algenarten.
Aber: Woraus besteht denn der vielbeschworene Aufwuchs, den Rennschnecken als Aufwuchsfresser anfangs im Aquarium ausschließlich futtern? Ein kleiner Tipp: Auf schlau heißt „Aufwuchs“ Periphyton, und da steckt neben dem griechischen „peri“ für „sich auf allen Seiten befindend“ auch noch das griechische Wort „phyton“ drin, das „bepflanzter Ort“ bedeutet. Im Aufwuchs muss also wohl irgendwas pflanzliches stecken? Richtig. Und was? Genau, Algen.
Neben Biofilmen, die von Bakterien, Pilzen und anderen Mikroorganismen gebildet werden, stecken im Aufwuchs massenhaft ein- und mehrzellige Grünalgen, Kieselalgen und so weiter, die die Rennschnecke natürlich alle auch futtert. Sie ist nämlich doch ein Algenfresser! Sie frisst nur nicht alle Algenarten.
Aus diesem Grund funktionieren auch die gerne empfohlenen Algenpulver wie Spirulina, Chlorella und Co. so gut, die man mit etwas Wasser zu einer Paste anrührt und sie dann auf einen Stein schmiert. Die Paste lässt man trocknen und kredenzt den Stein dann den Rennschnecken. Dieser Fressrasen wird supergern angenommen und hat schon mehr als eine „Renni“ vor dem Hungertod in zu frischen Aquarien bewahrt, in denen sich noch nicht ausreichend Aufwuchs bilden konnte.
Auch matschig-braunes Herbstlaub, das unter Wasser schon glitschig geworden ist, eignet sich zum Auffüttern, genauso wie Bakterien-Staubfutter, spezielles Schneckenfutter und Puddingfutter, das ebenfalls einen Fressrasen ausbildet. All diese Futtersorten (mit Ausnahme von Bakterien-Staubfutterpräparaten) haben übrigens als einen wichtigen Bestandteil – Algen. Weil sie sich an der natürlichen Zusammensetzung von Aufwuchs orientieren … Aufwuchs, von dem sich die Rennschnecken nunmal hauptamtlich ernähren.