Ein Aquarium schreibt Internetgeschichte: Die „Amazing Fish Cam“
Die einstige Bedeutung von Webcams ist mittlerweile kaum noch nachvollziehbar: Heute wären die Social-Media-Plattformen ohne Videos und Livestreams undenkbar. Im frühen Web hingegen waren Videos sehr selten, die Internetverbindungen waren vergleichsweise langsam und die Ladezeiten waren ein immenser Kostentreiber. Der einzige „Livestream“ im frühen Web waren die Webcams, die im Takt von einigen Minuten jeweils neue Bilder nachluden. Die allererste Webcam der Welt filmte unterbrochen die Kaffeemaschine in der Informatikfakultät der Universität Cambridge. So konnten die Forscher dort ab 1993 bequem von ihrem PC aus verfolgen, ob noch Kaffee übrig war.
Die zweitälteste Webcam der Welt, die obendrein am längsten ins Internet übertragen hat, stand bei dem bis dato noch weitgehend unbekannten Softwareunternehmen namens Netscape. Bekannt wurde dieses Unternehmen später für seinen Internetbrowser, den Netscape Navigator. Im Spätsommer 1994 kam Lou Montulli vom Netscape-Team auf eine ungewöhnliche Idee: Um bestimmte Funktionen bei der Browserentwicklung zu testen, benötige Netscape eine Webcam. Montulli wollte dies mit einem „interessanten Hobby“ verbinden… und so stellte er kurzerhand ein Aquarium auf, das fortan von der Webcam gefilmt wurde. Als „The Amazing Fish Cam“ („Die erstaunliche Fischkamera“) schrieb dieses Vorhaben Internetgeschichte.
Die Fish Cam im November 2003.
Zunächst handelte es sich um ein Meerwasseraquarium mit 150 Litern. Schon 1995 wurde es durch ein 340-Liter-Aquarium ersetzt, und 1996 dann durch ein 1.300-Liter Becken. Erst 2008 nahm Netscape die Übertragung des Aquariums vom Netz. Montulli ließ die Fish Cam ab 2009 mit einem 2.200 Liter Becken wieder aufleben. 2019 verliert sich allmählich die Spur dieses Webprojekts. Zu Beginn im Jahr 1994 sendete die Fish Cam jede Minute ein neues Bild, 2019 war dann sekündlich. Auch daran verdeutlicht sich der technische Fortschritt in dieser Zeit.
Die Fish Cam galt als die am Häufigsten besuchte Webcam überhaupt – mit etwa 90.000 Besuchern am Tag. In ihren Anfängen war sie wohl sogar die zehntbeliebteste Website im ganzen World Wide Web. Dies mag auch mit einer besonderen Funktion des Netscape Browsers zu tun gehabt haben. Ab 1997 enthielt der Netscape Navigator nämlich eine versteckte Funktion: Wer den Browser benutzte und dabei die Tastenkombination „Strg + Alt + F“ betätigte, landete automatisch bei der Fish Cam.
Die Geschichte der Fish Cam ist übrigens nicht nur für Aquarianer interessant, so schrieb etwa die Zeitschrift Economist über sie: „In ihrer kühnen Nutzlosigkeit – und der von Tausenden von Egotrips wie diesem – liegt der Keim der Internetrevolution.“